Als ich einem Bekannten, der in einer großen Firma für Online-Kommunikation zuständig ist, erklärte, was ich mache, sagte er, mit Storytelling würde ich wohl bei etlichen Chefs erst einmal Widerstand auslösen. Sein Chef beginne beinahe jedes Meeting mit den Worten: „Facts, no story, please!“
Dahinter steckt der verständliche Wunsch nach Effizienz, Ergebnisorientierung und möglichst wenig Gelaber. Trotzdem würde ein Chef, der diesen Satz wörtlich nimmt, sein Unternehmen oder Projekt an die Wand fahren.
Denn Fakten sind zunächst nicht mehr als Zahlen und Kennziffern. Wenn wir nicht verstehen, was die Mechanismen sind, die zu diesen Fakten geführt haben, dann können wir zwar schöne Diagramme zeichnen, aber wir verstehen nicht, wie das Unternehmen funktioniert – oder weshalb seine Prozesse nicht funktionieren.
Jeder Fakt, jede Tatsache, hat eine Geschichte. Taten, Entscheidungen oder Versäumnisse, die sie zu der Sache machten, die sie sind – samt den dahinerliegenden Motivationen ihrer Akteure. Die Story hinter und neben den Fakten ist das Fleisch, das den Zahlen Leben einhaucht.
Ein Beispiel:
Die Umsätze in einem Retail-Store einer hochpreisigen Modemarke sind seit Monaten rückläufig. Das Wetter kann nicht der Schuldige sein, das Umfeld des Geschäfts hat sich nicht geändert, andere Läden verbuchen Umsatzgewinne. Die Fehlzeiten der Mitarbeiter sind so niedrig wie nie zuvor. Wieso also sind die Zahlen so, wie sie sind?
Einer der Mitarbeiter kommt nach Hause. Seine Frau fragt ihn, wie sein Arbeitstag war.
„Susie ist heute im Lager zusammengebrochen.“
„Die sah doch schon letzten Donnerstag aus wie der Tod. Wieso ist sie überhaupt zur Arbeit gegangen?“
„Weil sie Angst hat, dass Esther ihr aus irgendeinem bescheuerten Grund ne Abmahnung verpasst.“
Vor einem dreiviertel Jahr bekam der Store eine neue Geschäftsleitung. Die Neue führt ein Regiment ein, in dem die Mitarbeiter wegen jeder Kleinigkeit abgemahnt wurden. Jeder bemühte sich, bloß nicht negativ aufzufallen, sie schleppten sich auch bei Krankheit zur Arbeit. Gleichzeitig verloren sie die Lust. Wo sie Kunden bis dahin immer noch ein weiteres Kleidungsstück zum Probieren angeschleppt hatten, mit echter Freude am Job und Stolz über ihr gutes Auge für Farben, Größen, unterschiedliche Geschmäcker und Bedürfnisse, machte sich Niedergeschlagenheit breit. Der Frust schlug auf die Umsätze durch.
Das ist die Story hinter den Fakten.
Ein Chef, der diese Story nicht herauszukitzeln versteht und nur auf die Kennziffern blickt, würde womöglich der Laden-Geschäftsführung stärker auf die Finger klopfen, was diese wiederum an die Angestellten weitergeben würde. Ein Teufelskreis.
Die Ehefrau des Mitarbeiters, hingegen, die sich für die Geschichten, die ihr Mann von seiner Arbeit nach Hause bringt, interessiert, mag die Mechanismen des Umsatz-Einbruchs besser verstehen als der Chef, der in seinem Meeting fordert: „Facts, no stories, please!“