Lichtspiel – Roman über den Horror und Horror-Roman

Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann über den deutschen Filmregisseur Pabst im Nationalsozialismus wird wahrscheinlich von keinem Buchhändler in das Regal eingeräumt, über dem „Horror“ steht. Dort soll es auch nicht landen – aber nicht, weil das Werk mit schnöden Literaturgattungen von vermeintlich anspruchslosen, feuilletonabstinenten Genre-Lesern nichts zu tun hat, sondern weil es mehr ist als nur Horror. 

Trotzdem ist Lichtspiel meines Erachtens eben auch das: nicht nur ein Roman über den Horror sondern auch ein Horror-Roman, der die Konventionen und Elemente dieses Genres bespielt.

Der Antagonist – das System Nationalsozialismus

Ich begann darüber nachzudenken, als ich beim Lesen a) erst fragte, wer eigentlich der Antagonist ist und b) bemerkte, wie omnipräsent derselbe ist: ein vielköpfiges Monster, das die Protagonisten in sein Haus geholt hat, festhält, jeden Augenblick mit Angst erfüllt und dabei immer allgegenwärtiger wird. Das Monster ist kein weißer Hai oder Alien sondern das System vom Minister bis zum Hausmeister, das selbst einen Literaturzirkel zu einem Ort der Bedrohung macht. 

Kehlmann lässt hier Raum für das Grauen zwischen den Zeilen – das ist hoher Horror. Und er verhindert durch die vielen Gesichter der Handelnden sowie die Perspektivwechsel, dass der Plot in seinen Beats allzu repetitiv wird. Repetitiv bleibt es natürlich, aber es gilt: „same but different“. 

Oft spielt Horror mit übernatürlichen Wesen. In Lichtspiel ist das Monster begreifbar und damit umso schlimmer. Oft handelt Horror von bzw. in einer alternativen Welt. Das ist ein interessanter Gedanke: Der Nationalsozialismus als alternative Welt – heute würde das gerne von vielen so gesehen werden. Aber diese Welt war Realität und ist auch heute viel zu nahe, im Grunde nur um die Ecke. Deshalb ist dieser Roman auch eine Warnung. Passenderweise wird am Ende des Buches der schlimmste der Antagonisten benannt, und das ist nicht der Minister, sondern der einfache Mann. Kehlmann lässt uns hier kein Entrinnen. Gut so.

Das Horror-Genre – Kernelemente

Aber schauen wir uns die typischen Kern-Elemente des Horror-Genres an:

Die Kerntonalität, die Kernemotion des Horror-Genres ist – quasi selbsterklärend – die Angst. Angst vor dem Unmenschlichem.

Horror stellt die Frage nach dem, was menschlich und was unmenschlich ist.

Im Horror geht es um Gut und Böse, Leben und Tod, aber dahinter geht es um die Seele, die auf dem Spiel steht.

Im Bösen des Horrors gibt es keine Aussicht auf eine Vernunftlösung. 
Es ist das Böse, was den Plot vorantreibt. Die Helden agieren eher reaktiv. Sie wollen überleben und entkommen.

Der Ort, an den die Helden flüchten, ist der fürchterlichste von allen.

Das Monster zwingt die Helden in sein Reich. Das Opfer ist in den Händen des Monsters. Die Helden sind konstanter Gefahr ausgesetzt.

Ziel der Horror-Autoren ist es, Szenen so angsteinflößend wie möglich zu machen. (Subtilität ist dabei Kunst).

Auf Horror reagieren wir oft mit Lachen, weil diese Reaktion eine Art Sicherheit vortäuscht. (Diese Art der Orchestrierung verlangt hohe Schreibkunst.)

Genre-Kombination

Da Horror an sich für einen schwächeren Plot steht, wird er typischerweise mit anderen Genres kombiniert – mal besser und anspruchsvoller, mal schwächer. Kehlmanns Roman ist ersteres. 

Lichtspiel ist historischer Roman, Drama, Horror und – vom inneren Genre her – auch ein Degenerations-Plot, was gut in dieses Horror-Genre passt, da es hier um das Hinabsinken in einen niederen Zustand geht. Alles wird immer schlimmer, wir beobachten, wie sich Pabst verstrickt, wie der Widerstand schwindet und die Frage des Mitläufertums stärker wird. Wie es seinen Sohn korrumpiert, seine Frau in den Alkohol drängt, gleichzeitig zeigt dieser Niedergang aber auch die omnipräsente Macht des monströsen, von gewöhnlichen Menschen getragenen Systems. 

Der Horror des Menschen

„Original sins“ – ursprüngliche Sünden, für die niemals gezahlt wurde, sind typisch im Horror-Genre und fließen subtil in der Story mit. Sie finden sich womöglich ebenfalls von Beginn an angelegt in den Figuren: in Pabst, der das Mitläufertum womöglich schon in seine Ehe mitgebracht hat. Etwas ist in ihm angelegt, was jederzeit (auf- oder zer-)brechen kann. 

Das Monster als Doppelgänger des Helden ist typisch für dieses oft psychologisch/soziologisch unterschätzte Genre. Pabst müsste dieses Monster in sich selbst angreifen, doch er tut es nicht … Keine der Figuren tut es, deshalb ist es auch keine Helden-Geschichte, die uns Horror-Geschichten normalerweise erträglich macht, wenn das Monster am Ende doch besiegt wird. Hier natürlich nicht.

Die besten Horror-Geschichten zeigen: der größte Horror kommt vom Menschen selbst.
Daniel Kehlmann ist ein großartiger Horror-Autor.