Wer ist Held – und ist das wichtig?

Ein Blick auf Format, Struktur, Figuren anhand des Constantin-Films „Hagen – im Tal der Nibelungen“ führt uns zu den Mechanismen von Storytelling – und in unser eigenes, von Dichotomien beherrschtes Denken.

Hagen vs Siegfried?

Der deutsche Kinofilm Hagen ist eine faszinierende Reise in eine Welt und ein Genre, die von vielen gerne als Action-Kino konsumiert wird. In diesem Fall kommt sie jedoch mit dunkler Tiefe und Fokus auf der zerrissenen Psyche eines der größten europäischen Helden daher: Siegfried. 

Damit – und weil der Filmtitel den Namen eines anderen Helden der Geschichte trägt – wären wir auch bei den Themen, die ich heute anhand des Films beleuchten möchte. Denn mir stellten sich im Kino vor allem zwei miteinander verbundene Fragen:

  1. Film oder Serie? Laut Medienberichten ist für den Stoff beides geplant.  Wieso hatte ich das Gefühl, ich hätte den Stoff lieber als Serie gesehen? 
  2. Was bedeutet die Wahl des Filmtitels „Hagen“ für die Wahrnehmung des Films und der Handlung?

Entscheidungen im Storytelling

Damit wären wir bei zwei Entscheidungen, die jeder Geschichtenerzähler treffen muss: Struktur und, damit verbunden, Format (Serie/Film) sowie das Ineinandergreifen von Figurenwelt und Struktur. 

Ein wesentlicher Aspekt bei allen Langformen (Roman, Film, Serie …) ist die Rolle von Schlüsselszenen, Kapiteln, Akten als Funktionen einer Hauptfigur.  Wir fragen: Wem gehört dieses Kapitel, diese Szene? Wer treibt sie voran? Wer verändert sich hier? Wer trägt den Konflikt, die Suche?

Eine weitere Entscheidung: Habe ich einen Protagonisten, mehrere oder eine Gruppe? Wer ist Protagonist, wer ist Gegenspieler? 

Hagen vs Siegfried: Protagonist vs Antagonist?

Zurück zum Film Hagen: Wenn der Titelheld Hagen der Protagonist ist, macht das Siegfried zum Gegenspieler? Das Gefüge ist komplex. Siegfried will im Laufe der Geschichte eigentlich kein Gegenspieler sein, er wird es qua Charakter und Schicksal, das ihn gegen Hagen bei Kriemhilds Liebe stellt, Chaos an den burgundischen Hof trägt. Sein zerstörerisches Potential wird mit durch due anderen Figuren entflammt, insbesondere durch König Gunter und Hagen selbst. Er ist kein klassischer Popcorn-Kino-Widersacher.

Spätestens wer Hagen als Titelheld als „gut“ und den vermeintlichen Antagonisten Siegfried als „böse“ charakterisieren will, hat bei diesem Film ein Problem.

Akt-Struktur und Format

Hagen ist kein klassischer Drei-Akter, sondern kommt mit mehr Akten, durchaus gemäß seiner epischen Vorlage. Doch wenn ein epischer Film wie ein eine Saga in mehreren unterschiedlichen Kapiteln/Akten kommt, bei denen die Hauptfiguren sich in ihrer Funktion als handlungstreibende und betroffene Kraft verschieben, stellt sich die Frage, ob eine Serie einer solchen Struktur nicht gerechter werden kann als ein Film. Serien kommen oft mit einer Vielzahl von Haupthandelnden, die in einer Folge auch nicht gleich gewichtet werden müssen. 

Serien und Filme funktionieren nicht immer gleich – insbesondere in der Struktur.

In eine Serie passt es leichter hinein, wenn König Gunter plötzlich ein Kapitel der Saga dominiert wie bei der Episode der Werbung um Brunhild. Aber Halt: Vielleicht dominiert Gunter ja gar nicht, nur weil es seine Quest ist? Wer treibt hier eigentlich die Handlung voran? Initiativ ist Hagen, aber mit der Naturgewalt Siegfried in ihrer Mitte bietet dieser eine Lösung für Gunters Problem an. Gleichzeitig ist es auf eine Art auch Siegfrieds Suche, denn er will ja Kriemhild, und seine Verbindung zu Brunhild kann man auch nicht als aus-therapiert beschreiben. Titelheld Hagen ist da schon längst bloß noch Mitläufer. Gunter wiederum handelt wie eine Art Avatar von Siegfried.

Welche Rolle erfüllt welche Figur?

Zunächst einmal auf einer philosophischeren Ebene: Muss diese Frage, welche Rolle eine Figur erfüllt, eigentlich so einfach beantwortbar sein?

Zurück zum Tal der Nibelungen: Trägt der Film den Namen der Hauptfigur? Ist Hagen ein Anti-Held, da tragische Figur? Kommt die Verwirrung aus Titel und Filmbeschreibung, weil ich dadurch meine, Hagen als Protagonisten sehen zu müssen und Siegfried als Gegenspieler?

Elemente von Hauptfiguren

Eine Empfehlung für das Finden der Hauptfigur ist, sich anzuschauen, welche Figur die längste Reise hat. Welche sich am stärksten verwandelt oder die größte Erkenntnis hat. Das funktioniert oft, aber nicht immer (in manchen Geschichten ändert sich die Hauptfigur nicht – Columbo lässt grüßen, aber auch Sherlock Holmes). 

Hagen startet als loyaler Diener der Burgunder, der Siegfried skeptisch gegenübersteht, und endet genauso. Allerdings steht er am Ende bei seiner heimlichen Liebe Kriemhield im Abseits, aber das ist keine innere Wandlung. Es ist seine Tragik. Er rückt im Verlieren durch Gewinnen ein Stück ins Dunkle.

Hagen hinterfragt interessanterweise nicht die ihm womöglich falsch erzählte Geschichte über den angeblichen Drachenangriff seiner Kindheit. Da lauert eine gewaltige Lüge, doch sie hat keine Konsequenzen, wird nicht weiter verfolgt. Ist das Absicht, um seinen Charakter zu zeigen, der lieber nicht zu viel weiß? Oder geschieht es unabsichtlich, weil nicht genügend Raum war, das in einem kurzen Film aufzugreifen? Bei Hagen frage ich mich daher: Wie viel mehr gibt es zu sehen – jenseits des Films, also als Material in einer Serie? Wäre seine Figur „auserzählt“, wird es für die Serie dünner.

Kriemhild ist nicht aktiv handlungstreibend in der Geschichte. Zwar kristallisieren sich am Ende alle Konflikte um die Frauen, aber die Schlüsselszenen und Kapitel sind keine Funktionen ihrer Figuren, das sind die Männer, die sich um sie scharen. Kriemhild wird am Ende härter erscheinen, eine andere sein, aber es scheint fast schon ein Naturgesetz, dass Frauen leichter den größeren Transformationsbogen hinlegen. 

Gunter, der König: Hier sehen wir einen Degenerierungsplot. Sein Charakter verschlechtert sich im Laufe der Geschichte. Wo er vorher verbunden hat, spaltet er am Ende.

Er ist kein Protagonist im klassisch filmischen Sinne, außer ansatzweise im Kapitel, wo er Brunhild gewinnt, aber wie erwähnt steht er auch in diesem Abschnitt maximal neben Siegfried, nicht vor ihm.

Siegfried: die faszinierendste Figur des Films: schillernd, intensiv, von überwältigender Präsenz, komplex, zerrissen, Zerstörer alles Schönen, dem er begegnet, und damit eine tragisch-chaotische Figur. Bei ihm wollte ich mehr wissen. Sein Hintergrund schrie nach tieferer Exploration. Dem kann ein Film einer solch epischen Handlungsbreite nicht gerecht werden. Aber die Filmemacher haben die Geheimnisse dieser Figur so packend angeteasert, dass die Gegenfrage besteht: Ist es nicht wunderbar, diese Figur als bannendes Rätsel zu behalten? Zu sehen, wie er agiert, ohne voll zu wissen, woher dieser Dämon in ihm stammt? 

Ändert sich also Siegfried? Auch er endet dort, wo er begonnen hat, fällt in alte Muster zurück. Die Transformation seines Wesens bleibt aus. Aber das Auf und Ab dazwischen, das Aufleuchten anderer Facetten, ist ein großartiger Ritt. Die meisten Kapitel sind Funktionen von Siegfried. Er ist, auf die eine oder andere Weise, stets treibende Kraft oder Auslöser, Kristallisationspunkt. 

Struktur und Figurenrollen – Faszination statt Popcorn-Leichtigkeit

Siegfried ist der Zerstörer, der von den Frauen geliebt wird. Hagen ist im Grunde eine Person des Status Quo. Er will Frieden, sagt er zu Siegfried, beide sehnen sich nach Familie, Verbindung. Ist es Siegfried, der dies zerstört – oder Gunter? Oder Hagen? 

Wer ist wann Antagonist, Protagonist? Wer entscheidet das eigentlich? Filmemacher oder Zuschauer? Perspektive oder Filmtitel?

Und damit zurück zum Anliegen, das auf den zugrundeliegenden Roman zurückgeht: Hagens Geschichte zu erzählen und zu erklären. Und natürlich steht Hagen zurück hinter Siegfried, das ist Überlieferung, seine Rolle, seine Tragik. Roman und Film zeigen, wie er den zweiten Platz in der Geschichte einnimmt. 

Aber … Wieso denken wir überhaupt so?

Story & Leben: Kunst und Perspektive

Was passiert, wenn man sich nicht auf eine Hauptfigur hin festlegt? Stattdessen eine Figurenkonstellation und Struktur wählt, die dem tatsächlichen Leben näher ist? Antagonist und Protagonist fließender betrachtet?

Damit sind wir bei der Tatsache, dass die Frage nach dem Protagonisten immer eine künstliche ist. Sie hat mit dem Leben nicht unbedingt viel zu tun. 

Auch das sollten wir nie vergessen: Wir sollten uns im Erforschen solcher Geschichten dabei beobachten, wie wir denken – in einer Zeit, wo jeder gerne in Hauptfiguren denkt, und wir dabei übersehen, dass wir alle Teil eines gewaltigen, komplexen Geflechtes sind, das wir nicht ansatzweise durchschauen. Wir müssen verstehen, dass unser dichotomisches Denken – Protagonist hier, Antagonist da – ein Konstrukt ist, und wie ausschlaggebend Perspektive ist.