Die Terranauten von T.C. Boyle haben viel zu bieten an Wissenschaft, Fakten, Themen, Psychologie. Doch beim Lesen beschäftigte mich am meisten, wieviel Literatur uns über das Heute zu erzählen vermag. Insbesondere über die Welt des Verfassers.
In diesem Fall die USA.
Ein Spiegel der heutigen USA
(Achtung, Spoiler!)
Boyles Figuren, die Welt der Terranauten samt allen Regeln, denen sie gehorcht – gesellschaftlichen, ökonomischen wie persönlichen – ist zutiefst amerikanisch. Amerikanisch in ihren Ängsten und Träumen, in Hybris und Heuchelei, Schöpfungskraft und Weltbild.
Dieser Spiegel gleicht einem Brennpunkt, wenn er enthüllt, wie sehr wir die Natur von uns weggestrampelt haben. Und darin liegt eine der großen Mahnungen dieser Geschichte.
Noch mag einem deutschen Leser einiges übertrieben vorkommen. Zu amerikanisch, so könnte das hier nicht spielen. Doch eifern wir Deutschen den Amerikanern nicht auch in der Verteufelung natürlicher Prozesse nach, indem wir uns ebenfalls dem Primat der Angst unterwerfen? (Denke – ACHTUNG SPOILER: Geburten. Die Schwangerschaft als ultimative Bedrohung für das Individuum, das Team, die Mission der Terranauten – so geht biologische Ironie.)
Man mag sich nach der Lektüre fragen, ob Nationen, die sich am weitesten von Naturvölkern entfernt haben, geeignet wären, den Mars zu kolonialisieren.
Diese Fähigkeit, unserer heutigen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, ist typisch für die Genres Science Fiction und Historisches – beides Genre, deren Elemente in den Terranauten stark vertreten sind (auch wenn die Literaturszene sich lieber auf die Einordnung in „Literary Fiction“beschränkt, was sicherlich mit Zielgruppenbefindlichkeiten bezüglich Genre-Fiction zu tun hat).
TC Boyle verleiht jedem Dinnergespräch Bedeutung
Ob Wissenschaft oder Religion, Feminismus oder Utopien, Umweltzerstörung oder menschliche Experimente – „Die Terranauten“ schenken viel Diskussionsstoff.
Zum Beispiel die Charaktere des Buchs: komplexe Archetypen, die dermaßen meisterhaft über – allerdings teils lange – dreihundert Seiten eingeführt werden, dass wir in der zweiten Hälfte, wenn das Tempo endlich anzieht, kaum mehr von ihren Entscheidungen überrascht werden. Drei wechselnde Erzähler, drei wechselnde Perspektiven – und ein Spiel mit Empathie, Sympathie und Rollen, in denen selbst Namen und Funktionen eine Einheit bilden.
Oder wie wäre es mit den Allegorien zur biblischen Schöpfungsgeschichte? Ein der Herausforderung nicht gewachsener Adam, eine Eva, die von ihren Teammitgliedern innerhalb wie außerhalb des Paradieses zur Schuldigen erkoren wird, gleichzeitig jedoch in ihrer universalen Muterrolle den perfekten PR-Stunt für das Projekt liefert.
Was ist mit den Auserwählten einer Utopie, die von Beginn an PR-Regeln folgt, über Ideale manipuliert und vor Heuchelei strotzt? Die Diktatur von Team und Mission?
Fazit dieser Rezension
Geeignet für Leser, die interpersonelle Konflikte mögen und gerne über den Themenurwald eines Geduld erfordernden, doch meisterhaft konstruierten Romans nachgrübeln. Der lange Atem lohnt sich.