Was macht „gute Geschichten“ aus?
Ich biete ganze Seminare zu dem Thema an, doch jenseits von Storyprinzipien, von der Analyse von Storyelementen, mag ein jeder von uns seine eigene simple Definition finden. Diese mag sagen:
Eine gute Geschichte ist spannend.
Eine gute Geschichte berührt mich.
Gute Geschichten erzählen mir etwas Wahres. Nicht umsonst lautet das Credo des amerikanischen Story-Gurus Robert McKee: Tell the truth!
Die Lektüre von Stoner, ein Roman von John Williams, zeigt, wie eine gute Geschichte uns das Leben vor Augen führen kann, wo wir sonst gerne blind sind.
„Stoner“ und Pixars „Oben“ – kondensiertes Leben
Stoner ist ein Paradebeispiel dafür, was Literatur vermag. Es erzählt keine Heldengeschichte von einem herausragenden Mann, in herausragender Position, der gegen übermenschliche Antagonisten angeht. Nein, es ist die Geschichte des „kleinen Mannes“, die dich traurig macht und wütend und dich gleichzeitig tröstet. Dieser Roman stellt Fragen wie was wir vom Leben erwarten. Was bleibt? Was ist Glück? Er erzählt uns eine Geschichte vom Wert eines anständigen Lebens, das leise tritt, anstatt mit Donnerhall.
Darin gleicht Stoner den ersten Minuten des Pixar-Films Oben. Ein Familienfilm im Vergleich mit einem Romanautor der klassischen amerikanischen Moderne? Animation im Vergleich mit hoher Literatur? – Ja, weil der Anfang von Oben zeigt, was Leben ist, und wie Stoner wählt es dazu nicht Menschen, die Präsident wurden, zum Mond flogen, Selfmade-Milliardäre wurden oder jemanden unter Einsatz des eigenen Leben retteten. Oben erzählt uns innerhalb von ein, zwei Minuten Freud und Leid, von Träumen und Hürden der „normalen“ Menschen. Es ist kondensiertes Leben.
Geschichten als Flucht und als Spiegel
Story reduziert, Story verdichtet, bis die Wahrheiten des Lebens nicht mehr im Rauschen von Allerlei untergehen, sondern herausstechen wie eine Projektion. Oder wie Fragen, in Großbuchstaben an die Wand gemalt. Nicht immer mit Antworten darunter.
Gute Geschichten extrahieren Bedeutung. Sie schaffen Bedeutung. Nicht ohne Grund ist die gleichnamige Hauptfigur von Stoner ein Literaturprofessor, der in der Begegnung mit Literatur erstmals Leben richtig fühlt. Stoner benutzt die Literatur, um seinem Leben zu entfliehen. Darin liegt Tragik, denn das Leben ist immer voll da, immer gegenwärtig, in seiner ganzen Fülle. Wir sollten keine Geschichten brauchen, um es wahrzunehmen oder um ihm zu entkommen. Stoner hält uns hier einen Spiegel vor, deshalb ist es großartige Literatur. Es liegt an uns selbst, in den Spiegel zu blicken.
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