Der Story-Koch: Von Genres und Süßspeisen

Kürzlich habe ich den Wissenschafts-Thriller Blackout von Marc Elsberg über die Folgen eines kontinentweiten Stromausfalls rezensiert (bei Lovelybooks). Ein beeindruckend recherchierter Roman zu einem Thema, das genausogut Stoff für ein Sachbuch gestellt hätte.

Süßspeise oder Herzhaft? – Unterhaltung oder Sachbuch?

Marc Elsberg hat sich für die Süßspeise – Belletristik – entschieden. Aber damit endet die Frage Was ist es? noch nicht. Als Story-Koch müssen wir uns noch vor dem eigentlichen Schreiben festlegen: Welches Genre bediene ich?

Genre-Wahl: Das Menü für die Gäste

Elsberg wusste wohl zu Beginn an, dass seine thematische Kernidee (Stromausfall und Folgen) die Handlung diktieren sollte, das Ganze also ein plot-getriebener Roman werden würde. Er legte sich auf einen Thriller von globalem Ausmaß fest. Ein anderer Autor hätte sich womöglich für eine Liebesgeschichte während eines Stromausfalls oder ein Familiendrama entschieden. (Zum Beispiel: Wie enthüllt eine Krise Zusammenhalt und Auseinanderbrechen in einer kleinen Gemeinschaft?) Doch dann wäre der Fokus vom Strom-Blackout zu Figuren und Beziehungen gewandert, und es wäre eine ganz andere Story für ein anderes Publikum geworden.

Die Wahl des Genres hat nicht nur mit der ursprünglichen Idee und dem, was der Autor gerne schaffen möchte, zu tun. Ein guter Thriller-Autor ist nicht unbedingt in der Lage, ein so intensives Liebesdrama wie Zeiten des Aufruhrs zu schreiben, und umgekehrt. Um im Bild zu bleiben: Jeder Bäcker hat seine Stärken und seinen Bereich, in dem er besonders gute Produkte schafft: Wenn ich niemals italienische Nachtische bereite, dafür tolle Blechkuchen, dann bewege ich mich am besten im „Genre“ Blechkuchen.

Genre-Erwartungen: Zwetschgenkuchen oder Tiramisu

Unser Story-Koch weiß nun also, was er backen will, er kann sein Genre benennen. Das hat Folgen für die Erwartungen des Lesers. Wenn ich Zwetschgenkuchen höre, entsteht ein recht genaues Bild in meinem Kopf, Geschmack und Geruch inklusive. Ich kenne die Kernzutaten, ich weiß, worauf ich mich – wenn der Bäcker einen guten Job macht – freuen kann. Bei einem Thriller sind das beispielsweise Spannung, die sich aus dem Gefühl, dass wir nie sicher sind, entwickelt, Cliffhanger, Twists und Wendungen mit womöglich sogar einem vorgetäuschten Ende, ein mächtiger Antagonist, die Endschlacht zwischen dem Guten und dem Bösen.

Ein Genre weckt Erwartungen. Zwetschgenkuchen ist etwas fundamental anderes als Tiramus. Natürlich, beide befriedigen die Lust auf etwas Süßes. Aber ich muss wissen, was ich schaffen möchte, sonst lande ich bei einem Zwetschmisu, das mein Publikum nicht mag. Oder ich weiß von Anfang an, dass ich einen originellen Genre-Mix anstrebe, aber dann passe ich schon zu Beginn das Rezept an. Vielleicht muss ich in dem Fall sogar sehr viel ausprobieren, bevor ich weiß, was funktioniert.

Das Genre oder die Bestimmung Was ist es? fungiert als Wegweiser zu meiner Süßspeise. Damit diktiert es grundlegende Inhalte. Ein Zwetschgenkuchen braucht Mehl. Ob Dinkelmehl oder Weizenmehl kann ich bei jedem neuen Kuchen bestimmen. Ob ich bei einem Thriller einen männlichen oder weiblichen Antagonisten habe, ob sie ein Psychopath ist oder hinter Geld her, kann ich alles entscheiden. Aber ohne einen mächtigen Antagonisten habe ich keinen Thriller. Der Widersacher ist eine Kernzutat.

Genauso: Wenn ich einen Wissenschafts-Thriller schreibe, ohne dass der technisch/wissenschaftliche Horror darin eine Hauptrolle spielt, dann bekomme ich einen Zwetschgenkuchen ohne Zwetschgen.

Lerne backen – lerne Storyprinzipien

Beim Kochen wie beim Schreiben bleibt vieles den Entscheidungen des Künstlers überlassen. Doch einiges ist, sobald ich mich einmal festgelegt habe, nicht mehr variabel. Den grundlegenden Kochprinzipien – Storyprinzipien – können wir nicht auskommen. Genreprinzipien sind ein wesentlicher Teil davon. Strukturprinzipien ein anderer.

Ich kann einen Kuchen nicht backen und die Eier erst hinterher in den Teig rühren. Als Erzähler kann ich meine größten Geheimnisse nicht zu Beginn über den Lesern ausschütten. Manchmal muss ein Teig eine Zeit lang gehen. Manchmal muss ich meinem Leser erst ermöglichen, mit meiner Figur mitzufühlen, bevor ich ihr das Leben zur Hölle mache. Ich kann den Kuchen nicht mit 60° backen, wenn er 180° braucht, und ich kann keinen Thriller schreiben, ohne ständig am Tempo zu drehen und es für die Hauptfiguren oder die Welt immer schlimmer werden zu lassen.

Das Studium der Storyprinzipien ist wie eine Kochausbildung. Egal ob als Koch oder begeisterter Esser: Wir lernen, was funktioniert. Und warum es funktioniert.

Vielleicht sehen wir uns ja mal in einem meiner Story-Seminare.

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